Warum ist Philosophieren angesichts der Sterblichkeit wichtig?

Patrick Schuchter hat eine interessante Vita. Nach seinem Philosophiestudium absolvierte er die Ausbildung zum Diplomierten Gesundheits- und Krankenpfleger und hat viele Jahre als Pfleger gearbeitet – auch mit schwer kranken Menschen. Von der Universität Graz und dem Zentrum für interdisziplinäre Alterns- und Care-Forschung (CIRAC) hat der studierte Philosoph das FWF-Forschungsprojekt „Philosophische Praxis in Palliative Care und Hospizarbeit“ an die Hochschule Campus Wien mitgebracht.

 

„Philosophische Praxis in Palliative Care und Hospizarbeit“ ist ein ungewöhnliches Forschungsprojekt. Wie sind Sie auf dieses Thema gestoßen?

Patrick Schuchter: Nach der Matura habe ich mit dem Philosophiestudium begonnen. Weil ich Geld gebraucht habe, habe ich in der Personenbetreuung gearbeitet und dabei zunächst fast zufällig eine neue Welt entdeckt – außerhalb der Bücher und der akademischen Wissenschaften. Ich habe die Ausbildung zum Diplomierten Gesundheits- und Krankenpfleger gemacht, war dann drei Jahre in der Ausbildung und fünf Jahre in der Praxis. Also richtig weg von meinem Hauptstudium Philosophie. Natürlich habe ich die Philosophie aber immer im Hinterkopf gehabt und wollte dann eine Dissertation machen, die beide Welten verbindet.

Die ursprüngliche Idee von Philosophie ist nicht, dicke Bücher zu schreiben. Die berühmtesten Philosophen der Antike, Sokrates und Epiktet, haben keine Zeile geschrieben. Das waren Leute, die, wie Cicero das über Sokrates sagte, „am Marktplatz und in den Häusern der Menschen“ über die existenziellen Lebensfragen gesprochen haben. Dieser Zweig der Philosophie hat mich immer sehr stark interessiert.  In meiner Dissertation und in diversen Forschungsprojekten habe ich mich daher zunächst der Ethik gewidmet – und dann der Philosophischen Praxis.

Wie sind Sie zur Forschung im Hospiz- und Palliativbereich gekommen?

Ich war als Dissertant, dann als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Palliative Care und Organisationsethik der IFF Wien (Fakultät für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung), die zur Uni Klagenfurt gehörte, aber ihren Sitz in Wien hatte. Das war ein prägendes Institut für die Entwicklung von Palliativarbeit in Österreich.

Da ist mir aufgefallen: Es gibt viel Gesprächsangebote, wie die Psychotherapie, die Seelsorge, auch Supervision, Coaching, Ethikberatung. Warum ist die Philosophie abwesend? Einerseits ist sie abwesend, weil sie sich zu sehr in akademische Verschnörkelungen verloren hat. Aber andererseits gibt es diesen Zweig der Philosophie, der Menschen etwas Konkretes bieten kann, nämlich die Philosophische Praxis, die ermöglicht, dass man ins Gespräch kommt über letzte Fragen. 

Ich kannte die Bewegung der Philosophischen Praxis. Das sind Menschen, die die Philosophie aus dem Elfenbeinturm herausholen und in philosophischer Beratung, in Einzelgesprächen, in Gruppen, an öffentlichen Orten das Philosophieren im Alltag ermöglichen wollen. Dann habe ich mir die Frage gestellt: Wie kommt dort das Thema Sterben, Tod und Trauer vor? Ein Anliegen der Hospiz- und Palliativarbeit lautet ja: Wir wollen den Umgang mit Sterben, Tod und Trauer in der Gesellschaft normalisieren. Was trägt die Philosophische Praxis dazu möglicherweise bei?

Den Tod und das Sterben wiedereingliedern, wie es früher einmal war.

Nun ja, dieses „Früher“ wird immer leicht verklärt. Man hat früher mehr Menschen daheim aufgebahrt, das mag schon sein. Es war vielleicht schon so, dass der Tod mehr Platz im Leben gehabt hat. Aber dadurch, dass die meisten Menschen im Krankenhaus versterben, ist der Umgang mit dem Tod gewissermaßen „ausgelagert“ worden. Dann ist die Hospizbewegung entstanden mit dem Bild, es braucht einen würdevollen Umgang in dieser letzten Lebensphase. Das St. Christopher’s Hospice in London ist 1967 von Cicely Saunders gegründet worden und war der Grundstein für die Palliativbewegung.

Die Hospiz- und Palliativarbeit bietet viel, nämlich, neben Leidenslinderung den Menschen Würde und Teilhabe zu geben. Palliative Care realisiert eine Kultur der Sorge.

 

Die berühmtesten Philosophen der Antike, Sokrates und Epiktet, haben keine Zeile geschrieben. Das waren Leute, die am Marktplatz und in den Häusern der Menschen über die existenziellen Lebensfragen gesprochen haben.
Portrait Patrick Schuchter

Patrick Schuchter

Philosoph, Krankenpfleger, Senior Researcher

Philosophische Praxis kann auch beim Sterben wichtig sein?

Es ist ja nicht so, dass die großen Fragen angesichts des Todes andere Fragen wären als die grundlegenden Lebensfragen. Sie stellen sich nur oft mit anderer Deutlichkeit und Dringlichkeit. Wir schieben im Leben vieles vor uns her und von uns fort. Erst am Schluss des Lebens mit dem Philosophieren zu beginnen, das wäre etwas spät. In unserer Studie waren auch tatsächlich schwer Kranke und Sterbende dabei. Aber man stellt sich die Fragen nicht erst am Lebensende. Manchmal spüren wir die Sterblichkeit schon mitten im Leben. Dann wissen wir gar nicht genau, was uns so berührt. Und dieses Entdecken der Fragen selbst, das ist schon ein erster Zugang zum Philosophieren. Oft sind es die Angehörigen, die ehrenamtlichen Hospizmitarbeiter*innen, das Personal, die aus der Begegnung heraus existenzielle Frage mitnehmen.

Es ist wohl die erste und die letzte Grundfrage im Leben: Was ist der Sinn meines Lebens? Warum hat Philosophische Praxis bis jetzt noch keine Rolle gespielt?

Ich glaube, der Begriff des „Sinns“ ist entweder überfrachtet – oder leer. Ich würde ihn vermeiden, auch deswegen, weil er viel zu geläufig ist und die großen Fragen in ihrer Abgründigkeit oft verdeckt. Es gibt natürlich Gespräche, aber im Rahmen der Psychotherapie und Seelsorge. Man hat es therapeutisch gesehen – oder unter religiösem Vorzeichen. Was wunderbar ist, aber wir sind über unsere Studie daraufgekommen, dass es Menschen gibt, die sich mit einer gewissen offenen Radikalität mit Fragen auseinandersetzen wollen – ohne religiöse Voraussetzungen. Und dahinter steckt auch keine Therapiebedürftigkeit oder Suche nach „Hilfe“. Es ist ein Bedürfnis per se, gewissermaßen Nahrung und Pflege des Geistes. 

Nur weil man schwer krank ist, nur weil man stirbt, ist man nicht automatisch hilfsbedürftig, sondern auch noch Mensch und Bürger*in. Das haben uns auch die Gäste von Einzelsitzungen rückgemeldet. Sie wollten gar nicht, dass jemand hilft. Es braucht einen Ort, wo man einfach über die großen Themen nachdenken und sprechen kann. Und das wäre dann der Ort für Philosophie und Philosophische Praxis. Das Besondere dabei ist auch, dass damit existenzielle und gesellschaftspolitische Fragen oft verknüpft werden, was in den rein hilfeorientierten Formaten völlig ausgeblendet wird.

Was macht Philosophieren bzw. die Philosophische Praxis aus? 

Wir schauen in die Welt und die Welt spricht mit uns und stellt uns vor Fragen. Diesen Raum zu öffnen und in freier Fraglichkeit zu halten, das kann die Philosophie gut. Die Gespräche bei Platon, die frühen Dialoge enden alle im Widerspruch. Der größte und „erste“ Philosoph, Sokrates, wird in der Sterbeszene von seinen Schülern befragt: Wie schaut es nun aus mit der Unsterblichkeit der Seele? Wie lebt sie weiter? Und er sagt im Grunde: „Ich weiß es nicht.“

Das muss man sich vorstellen, die Philosophiegeschichte beginnt mit dem Nicht-Wissen! Wir glauben immer, wir brauchen klare Antworten, einen definierbaren „Sinn“. Weit gefehlt – das Philosophieren, das keine schnellen Antworten erzeugt (sondern diese auch immer wieder zerstört), ist ein Verweilen mit den Fragen und verschiedenen Perspektiven. Das selbst kann eine echte, starke und trostreiche Haltung angesichts des Todes sein. Das sage nicht ich, sondern die Gäste der Philosophischen Praxis. Das hat mich überrascht – aber es ist sehr konsequent.

Im Buch von Bronnie Ware „Fünf Dinge, die Sterbende am meisten bereuen“, sprechen die Menschen davon, was sie versäumt haben. Niemand sagt zum Beispiel „Ich habe zu wenig gearbeitet.“

Genau. Menschen sagen: „Ich wünschte, ich hätte ein echteres Leben geführt und ich hätte nicht so viel gearbeitet, sondern mehr Beziehungen gepflegt.“  Aber auch: „Was habe ich alles versäumt?“ Die Dinge, die man machen wollte und die man dann nicht gemacht hat.
Tatsächlich, würde ich sagen, ist eine Kernfrage diese: „Lebe wirklich ich mein Leben oder werde ich mehr gelebt?“ Eine andere Kernfrage zielt weniger auf das Gelingen meiner eigenen „Authentizität“, sondern auf meine Beziehungen zu anderen und zur menschlichen Gemeinschaft: „Bin ich versöhnt? Trage ich Schuld? Kann ich mir am Ende des Tages – aller meiner Tage – in den Spiegel schauen? Habe ich einen Beitrag für den Erhalt der Welt geleistet?“

Die Grundangst der Menschen ist es, im Alter die Würde zu verlieren. Und für die meisten Menschen bedeutet Würde aber „Autonomie“, also selbst entscheiden, sich selbst anzuziehen zu können, nicht von anderen abhängig zu sein.

Das ist eines der größten Themen der Gegenwartsethik überhaupt. In der Ethik im Gesundheitswesen dreht es sich meist um Fragen wie: Ist der Patient oder die Patientin in der Lage, selbst zu entscheiden? Was ist sein oder ihr Wille? Die Autonomie ist eine der großartigsten Errungenschaft der modernen Gesellschaften. Die Frage ist nur: Übertreiben wir es nicht vielleicht auch schon mit dem Individualismus, der implizit damit kultiviert wird? Als „autonom“ sehen wir gewissermaßen nur gesunde, erwachsene „rationale Entscheider“ an. Das verengt das Menschenbild ungemein. Wir tun uns schwer damit, Würde mit Situationen zu verbinden, wo wir Hilfe brauchen. Aber Hilfe zu brauchen, gehört zum Leben dazu. 

Nur weil man schwer krank ist, nur weil man stirbt, ist man nicht automatisch nur hilfsbedürftig, sondern auch noch Mensch und Bürger*in.
dekoratives Element

Was macht gute Palliativpflege aus? 

Gute palliative pflegerische Betreuung, generell interprofessionelle Palliative Care, hat unglaubliches Potenzial. Es gibt gute Studien, die zeigen, dass wir als Gesunde systematisch die Lebensqualität von Menschen, denen es nicht so gut geht, falsch einschätzen. Zum Beispiel bei Menschen mit Behinderung oder bei schwer kranken Menschen.  

Denn selbst, wenn ich schwer krank bin, hat ein Tag 24 Stunden. Ich lese ein Buch. Ich esse etwas Gutes. Die Menschen im Hospiz sagen, ich will einmal noch dieses Stück Käse essen. Das schmeckt so viel besser, als wenn wir im normalen Alltag den Käse hinunterschlingen. Gerade mit der gefühlten – nicht nur abstrakt bewussten – Endlichkeit des Lebens vor Augen, kann die Intensität des Lebens ungemein zunehmen. Beziehungen können intensiviert werden. Menschen leuchten nochmal anders. Was Würde heißt, dürfen wir nicht definieren. Weil wenn wir es definieren, schließen wir andere aus. Würde ist der Respekt vor dem Geheimnis des individuellen menschlichen Lebens. 

Zu pflegen und für andere in solchen Situationen zu sorgen, das ist mehr als eine Aneinanderreihung von professionellen Dienstleistungen, was natürlich wichtig ist. Es ist zusätzlich Erkenntnis und „Aufrichtung“ des beschädigten und leidenden Lebens, Teilhabe an den tiefsten Einsichten in das, was es heißt, Mensch zu sein. Einsicht entsteht nicht ganz von selbst – sondern erst, wenn wir „philosophisch sorgen“ oder „philosophierend sorgen“, also über Erlebtes und Fragliches auch nachdenken. Philosophische Praxis kann dabei unterstützen. Pflegeberufe spielen eine große Rolle. Vieles wäre anders, würde die Gesellschaft sich mehr an „Care“ orientieren – es gibt genug zu tun.